Einsiedler-Krebsin Teil 3

Warum hatte sie das gesagt?

Die meisten schreiben zu viel und reden zu wenig.

„Na ja, zumindest hier in unserer Agentur. Ich denke schon, dass einige von uns, und ich schließe mich da mit ein, auf jeden Fall mehr drauf achten könnten, Protagonist*innen auch mal anzurufen. Oder zumindest auch im Team mehr miteinander zu reden.“

Sie versuchte, alles möglichst harmlos zu formulieren. Sich ganz nett und freundlich und allen anderen zugewandt auszudrücken.

Die Wahrheit dahinter war, dass Klara durch die Worte des Chefs getriggert wurde. Was er sagen wollte, da war sich Klara sicher, ist, dass das Team verdünnt wird, dass hier ausgesiebt wird. Und ihr Überlebensreflex, den sie sich so lange schon antrainiert hatte, sprang sofort ein. Wurde lauter als alle Bedenken, jetzt etwas zu sagen. Und so sprach sie laut aus, was sie im Inneren dachte. Dass sie gut war in direkten Ansprachen. Das sollte ihr Chef wissen. Netzwerken war vielleicht nicht ihr Thema. Aber dafür gab es andere Themen, die sie sehr gut und sehr wohl bespielen konnte. Und eines davon war eben, direkt zu sein. Wie hätte es Klara nicht besser ausdrücken können, als in einem direkten Kommentar.

Allerdings, und das versuchte sie jetzt einigermaßen wieder ins Lot zu bringen, war ihr schon klar, wie im Team ein solcher Vorstoß ankommen würde, und dass ihr Versuch, sich selbst gut darzustellen, natürlich vielen der hier Anwesenden nicht entgangen war. Aber Klara konnte nichts mehr dagegen tun. Sie war mittlerweile so weit in ihrem Denken der Konkurrenz, dass sie sich nicht mehr stoppen konnte. Dass ihr Drang, zu überleben, hier, in diesem Job, der gleiche war, wie früher die beste zu sein.

Ihr war klar, auch wenn sie es nie so deutlich aussprach oder sich selbst gegenüber eingestand, dass ihr das noch nie Freunde oder Freundinnen gebracht hatte, ja wahrscheinlich auch deswegen hatte sie kein Netzwerk. Aber was redeten denn auch alle von einem Netzwerk, wenn das ganze Leben purer Kampf jeder gegen jede war?

Als Klara fertig war mit ihren Ausführungen, immer netter und freundlicher werdend, „es sei ja nur eine Anregung“ und „es könnte wirklich einen Unterschied machen“, schien ihr Chef nachdenklich zu sein, für Klara im guten Sinne.

„Ich werde da auf jeden Fall mir noch ein paar Gedanken zu machen, das ist ein guter Einwurf.“

Jill allerdings schaute sie kopfschüttelnd an und zurück an ihren Schreibtischen flüsterte sie: „Bist du jetzt komplett wahnsinnig geworden? Mehr anrufen? Mehr miteinander reden? Und das soll was? Gewinnbringend sein?“

Klara zuckte die Schultern. „Ich denke schon“, sagte sie.

„Ah ja, und mir kam es so vor, als würdest du nur deinen eigenen Arsch retten wollen.“

Klara wusste nichts zu sagen – normalerweise konfrontierten Menschen sie nicht nach solchen Situationen mit ihrem eigenen Tun. Klara blieb üblicherweise auf sich alleine gelassen zurück und machte sich im Inneren Gedanken, wie klug das jetzt gewesen war oder nicht. Aber einem Kommentar wie dem von Jill begegnen – Klara wusste nicht, wie.

„Und von wegen, der Job ist dir so egal und eigentlich würdest du eh gerne woanders arbeiten. Komisch, konnte ich gerade nichts von sehen.“

Klara sagte immer noch nichts und starrte stattdessen auf ihren Bildschirm, als gäbe es dort etwas, das sie jetzt machen müsste. Irgendwann stoppte Jill mit ihrer Rede – wahrscheinlich, weil sie keinen Sinn darin mehr sah, zu jemandem zu reden, die sich auf tot stellte. Jill schaute auf ihren eigenen Bildschirm. Endlich wieder Ruhe, dachte Klara.

Die Taube lief so laut über das Wellblechdach, dass Clara verwirrt aus dem Fenster schaute. Konnte die so laut sein? Die Taube war dick und stolz, sie reckte sich, machte sich größer, indem sie ihren Kopf nach oben hob, die Brust aufplusterte, während sie einen Taubenfuß vor den anderen setzte.

Am nächsten Tag wartete auf Klara vor ihrer Wohnungstür eine dicke schwarze Katze. Klara wusste nicht, ob das eine Bedrohung sein sollte oder – ja, oder was? Die Katze saß dort, miaute, schaute zu ihr hoch. Wartete.

Klara hatte kein gutes Gefühl, zur Arbeit zu gehen. Die Katze verstärkte das nur noch. Es schien ganz so, als hätte sie ihre einzige Verbündete, Jill, verloren. Oder zumindest für eine gewisse Zeit konnte sie jetzt erst einmal nicht mehr auf sie zählen. So lange, bis sie sich ihr Vertrauen zurückerarbeitet hatte. Ja, das dachte Klara wirklich: Dass es jetzt wieder ums Arbeiten ging. Dass sie sich jetzt in Sachen Freundschaft richtig anstrengen musste, etwas leisten musste, damit sie wieder Jill als Partnerin hatte.

Obwohl ihr ja von Anfang an klar gewesen war, dass sie eigentlich Konkurrentinnen waren, und eine Stimme in Klaras Kopf sagte auch: So endet es immerhin jetzt. Es wäre eh nicht besonders lange gut gegangen.

Die Katze miaute noch einmal und sah sie an. Klara schüttelte den Kopf und ging weiter.


Es hatte sie schon immer gestört, in dieser ganzen Kunstgeschichtssache, dass sie alle diese schönen Namen trugen. Es waren Namen, die selbst schon Geschichte erzählten. Es waren ja auch reale Geschichten, die hinter diesen Namen steckten.

Während des Studiums hatte sie einen Freund über mehrer Semester, der solch einen bedeutenden Nachnamen trug, dass ihm dieser bestimmte Tore und Türen öffnete. Nie wird sie es vergessen, als sie einmal mit ihm auf einem Familienessen war. Klara liebte Familienfeiern, und die schon sehr alte Ur-Großmutter ihres Freundes sagte: Wie schlimm es damals zu Kriegszeiten gewesen war, als es nur noch Blockschokolade gab. „Und die konnte ich überhaupt nicht leiden. Wir saßen dann alle um den Ofen herum und kamen auf die Idee, die ungeliebte Blockschokolade zu schmelzen, sie zu trinken mit Milch. So war sie doch ganz erträglich, so half man sich über den Krieg“, sagte die alte Frau und lachte. Alle anderen lachten mit, die Mutter ihres Freundes tätschelte die Schulter ihrer Großmutter.

Klara war fasziniert, sie saß dort an dem langen Tisch mit all den Verwandten – wie schick sie alle waren – und sie wusste nicht, was sie denken sollte über all diese Blicke der anderen, süß, hingebungsvoll, galten ihre Augen alle der alten Dame und der Blockschokoladengeschichte.

Klara kannte solche Kriegsgeschichten auch von ihrer Familie, ihre Mutter erzählte gerne Geschichten aus der Nachkriegszeit. Als Spätaussiedler aus Polen hatte die Familie in Deutschland nichts, ein großes Fass mit Gewürzgurken war der Luxus der ganzen 10-köpfigen Familie. Und wenn der Vater einmal herausfand, dass eine der Gurken fehlte, konnte er richtig wütend werden. „Er wusste, dass wir Kinder öfter in den Keller gingen und manche doch etwas zu lange brauchten, um Mehl oder Holz aus dem Keller zu holen,“ erzählte Klaras Mutter oft. Also hatte der Vater angefangen, die Gurken zu zählen. Und die Kinder zu kontrollieren. Ja genau, der Vater ihrer Mutter – das war der Großvater, der nie lachte.

Und nun hörte Klara bei dem Familienessen die Geschichte einer Frau aus der ähnlichen Generation ihres Großvaters, der sein Lachen in genau der Zeit verloren hatte, als diese alte Frau dort hinten mit Blockschokolade über dem Ofen spielte.

Klara wollte auch an den Lippen der alten Frau kleben, aber sie konnte nicht. Die Gewürzgurken waren dazwischen. Konnte es sein, dass das keine wirkliche Kriegs-Geschichte war?

Später sagte sie ihrem Freund, dass sie sich ja schon frage, was seine Ur-Großmutter während des Zweiten Weltkriegs gemacht habe. Na, was soll sie schon gemacht haben? Na, auf welcher Seite sie war. Wenn sie Blockschokolade hatte... Ach, das fragst du dich? Wie kommst du dadrauf? Hast du dich das denn nie gefragt?, fragte Klara. Nein, sagte ihr Freund.

Klara machte eine Fastenkur. Irgendetwas musste sie machen, um zu versuchen, mit diesem neuen Gefühl umzugehen. Jill sprach nur das Nötigste mit ihr und Klara schaffte es nicht, das Problem zwischen beiden anzusprechen. Die Arbeit in der Agentur war seitdem nicht nur öde, sondern Klara traute sich auch nicht mehr, zu spät zu kommen. Sie war so angespannt, fühlte sich von allen beobachtet, dass sie alle Aufgaben in der kürzesten Zeit erledigte. Ihr Chef gab ihr ein eigenes Projekt innerhalb der Magazin-Gestaltung.

Aber auch der Druck und ihr Mehraufwand konnten nicht überdecken, dass Klara in der Agentur vollkommen unglücklich war.

Sie wollte sich ablenken, sagte sich, mit der Fastenkur tue sie etwas für sich.

Was sich anfangs gut angefühlt hatte, dieses Loswerden von Giftstoffen, verwandelte sich in etwas Manisches, in... nun, selbst Klara würde das sagen: in etwas Krankhaftes. Wie so oft in ihrem Leben und wie konnte das so sein? Wie konnte alles, was sie tat, in solch einem Extrem enden? Und wieso, wenn sie sich umschaute auf der Straße, sah sie das nicht bei anderen? Was hatten die, das sie aufhielt, so extrem zu sein?

Mit einem Mal wurde ihr der ganze Schmutz und der Abfall ihres Körpers gewahr. Wie sie da saß auf der Erde, frisch geduscht, Zähne geputzt, verspürte sie auf einmal eine Art Gestank, aus ihr selber entströmend. Sie ging mit ihrer Zungenspitze über die Zähne, über den Gaumen, nein, es war nichts, was man hätte wirklich abtasten können, berühren können, prüfen können. Aber es war da, sie öffnete den Mund, hauchte. Nein auch so konnte sie es nicht verifizieren, aber es war da. Sie spürte es, sie roch es innerlich, sie konnte dabei zusehen, wie ihre Haut Giftstoffe ausstieß, wie ihre Organe versuchten, den Körper zu reinigen.

Es würde nie funktionieren, dachte sie, alles kann arbeiten in meinem Körper wie verrückt. Aber es wird nicht funktionieren, dass wirklich alles sauber ist.

Was eigentlich logisch ist, was jeder Mensch weiß, wenn er oder sie die Funktionen des Körpers näher betrachtet, brachte Klara in eine Art Sturz, Schreck, ihr wurde bewusst, wie schmutzig diese ganze Angelegenheit Körper war. Ihr wurde es mit dem einen Mal so bewusst, dass sie nicht wusste, was sie mit all diesen neuen Erkenntnissen anfangen sollte, sie wusste nicht, wie sie sich davor retten konnte – denn es gab keine Rettung, genau das war ja die Erkenntnis. So sehr sie oder ihr Körper auch versuchten, sich zu reinigen, sie würden es niemals schaffen.

Nun, was sollte es schon, würde man Klara vielleicht sagen, würde sie einen ins Vertrauen ziehen. Es ist eben ein Körper. Und da jedes Wesen auf der Welt einen solchen besitzt – in mehr oder weniger leicht abgewandelter Form – so ist es eben die Natur des Körpers, immer Giftstoffe zu haben und zeitgleich immer den Körper permanent von diesen zu reinigen.

Aber Klara würde das wohl kaum beruhigt haben, denn sie fühlte sich nicht wie jeder, sie war nun einfach nicht jede, mehr noch, sie wollte und hatte es bis jetzt immer geschafft, sich abzusetzen von all den anderen. Nein, nicht absetzen, sie wollte einfach nur beweisen, warum sie besser war als die anderen, warum sie es verdiente diesen und jenen Job zu bekommen, dieses und jenes Praktikum.

Klara saß in der Küche auf dem Boden, als sie diese Erkenntnis über den eigenen Körper traf. Sie hatte sich kurz setzen müssen, ihr war schwindlig gewesen. Vielleicht, weil ich zu schnell aufgestanden und duschen gegangen bin, dachte sie, manchmal musste es so schnell in ihrem Leben gehen, dass sie keine Zeit hatte, sie hastete aus dem Bett zur Dusche, aus der Dusche in die Küche, sie wollte sich Wasser aufsetzen, da wurde ihr schwindlig. So schwindlig, dass sie sich festhalten musste an dem Herd, dass ihre Knie wie auf ihren eigenen Wunsch, und doch war es der nicht, einknickten, sie sich mehr und mehr der Erde nähern musste, als sei es ein unvermeidbares Gesetz. Klara blieb in einer hockenden Haltung auf den kalten Fliesen der Küche sitzen. Sie schloss die Augen, lehnte ihren Rücken an den Herd.

Erst fand sie ihren Zustand bedenklich, den Schwindel, das Zusammenklappen. Aber dann machte sich in ihr eine Ruhe breit, relativ schnell konnte sie mit geschlossenen Augen so etwas wie Frieden spüren, in ihr, in allem, sie konnte ruhiger atmen. Gerne hätte man Klara gesagt, dass es vielleicht sogar noch mehr ist, dass sie ihr eigenes Leben spüren konnte in diesem Moment, dass sie ihr Atmen, ihren Körper, ihre Gedanken sehen konnte und zwar jetzt, in diesem Moment. Aber Klara genoss einfach nur diese Ruhe, sie brauchte keine Erklärungen, keine Definitionen. Für diese kurze Zeit war sie einfach nur ruhig – etwas, dass sie so selten kannte in ihrem Leben, in ihrer Vergangenheit, aber auch etwas, wonach sie sonst auch gar nicht suchte.


Seit sie vor ein paar Monaten auf den Handwerker gewartet hatte, war ihr wirklich bewusst geworden, dass sie unter Panik-Attacken litt. Sie wollte das erst nicht wahr haben. Aber es war nicht mehr zu ignorieren. Die Attacken wurden kontinuierlich stärker. Wahrscheinlich waren sie schon vorher da gewesen, in geringerem Ausmaß.

Dieser Ruhe-Moment nach der Panik hielt allerdings nicht besonders lange an, schon nach ein paar Sekunden war da etwas anderes, dass sich unter dem nachlassenden Schwindel zeigte: Klara bemerkte, dass sie schwitzte, und zwar eine Art Angstschweiß. Er roch bitter und klebte auf der Haut, Klara kannte den Geruch, er war so spitz, dass sich ihre Nase kräuselte, bevor sie wusste, auf was sich die Reaktion bezog. Sie atmete noch einmal tief durch, um auch den letzten Rest des Schwindels loszuwerden. Und da war er, dieser Geruch in ihrem Mund, den sie nicht riechen konnte, aber der da war. Den sie nicht mit der Zunge, nicht durch das Ausatmen identifizieren konnte, aber sie wusste, er war da. Er war wie diese tausend Milben, die den ganzen Tag über arbeiteten, ohne dass man sie sah. Nur ihr Ergebnis, der Staub, war deutlich zu sehen.


Damals, als sie all die Praktika gemacht hatte, da hatte sie immer gedacht, dass das, was ihre Vorgesetzten machten, genau ihr Ding ist. Warum nicht die Artikel für die Ausstellungs-Kataloge schreiben, was für eine wundervolle und würdevolle Aufgabe das doch ist. Und nun dachte sich Klara, dass sie damals vielleicht einfach zu bescheiden gewesen war, sie hatte sich einfach nicht genug Mühe gegeben. Mühe im Sinne von: aufzufallen, sich auch einmal zu überschätzen, auch mal ihrem Chef zu sagen: Ich schreibe diesen Artikel, ich kann das. Ja warum nicht.

Aber ach, all das lag nun schon so lange zurück, so unendlich lange zurück... Sie hatte das Gefühl, sie arbeitete schon eine Ewigkeit in dieser Agentur und alles andere, das waren bloß Träume, das war nie Realität. Weil ihre Vergangenheit so weit weg war von all dem, was sie momentan tat, wurde ihre Vergangenheit zu einer Art Irrealität.

Klara schreibt:

Was ich in meinem Leben noch haben möchte: eine Tasche von Louis Vuitton und Schuhe von Manolo Blahnik.

Es ist Silvester, oder eher Neujahr. Ich bin 31. Meine Wünsche, siehe oben. Man sagt, meine Generation bestehe daraus, den Sinn des Lebens zu suchen. Und darüber hinaus alles zu vergessen. Meine Verwandten, Vater und Großvater, haben im Stahl-Hochofen gearbeitet. Sie haben den Sinn des Lebens wohl nicht versucht im Hochofen zu finden. Wohl eher in ihrer Freizeit. Wenn es denn eine gab. Vielleicht in ihrer Familie. Aber ich weiß nicht, was ich von meinem Großvater erinnere und was andere über ihn erinnern, das klingt nicht so, als habe er für seine Familie gelebt.

Man sagt, wir seien anders. Wir wollen nur die Jobs machen, die uns erfüllen, die uns einen tieferen Sinn geben. Wir haben keinen Krieg erlebt in unserem Land, vielen unserer Eltern geht es so gut, dass wir nie hungern mussten. Vielleicht zur Magisterarbeitsphase. Aber das erzählen wir dann stolz. Harte Zeit. Ich übertreibe, denn ich identifiziere mich zu hundert Prozent mit der Beschreibung. Ja, ich will nur den Job machen, der mir Spaß macht.

Das letzte richtig Teure, was ich mir gekauft habe, war ein Apple-Laptop. Damit bin ich gerade gegen den Pfosten der Zimmertür meines Freundes gerannt. Aber hey, das ist ja gute Qualität, das hält das aus. Das hält alles aus. Auch mit Apple identifiziere ich mich. Zumindest mit dem Gefühl, das die Geräte vermitteln, was sie alles können und wie leicht sie sind. Das Design, klar.

Draußen: Sirenen. Wahrscheinlich wegen dieser Verrückten, die mit den Böllern so umgehen, als seien sie Konfetti. Schmeißen sie mitten in die Menge. Einfach so.

Ich sitze am Schreibtisch, zum ersten Mal an einem Silvesterabend. Ich habe keine Lust auf Menschen. Es ist noch mehr: Ich habe ehrlich gesagt Angst vor Menschen. Erst dachte ich, nur vor fremden Menschen. Aber mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher.

Aber ich finde das nicht schlimm. Ich denke nicht, dass das ein Problem ist. Mehr noch, ich frage mich, warum andere Menschen das als Problem sehen. Das haben natürlich viele gesagt: Warum ich denn Zuhause bleiben würde, warum ich denn keine Lust hätte... Als hätte ich ein Problem.

Es ist nicht so, als würde ich keinen neuen Job suchen. Das tue ich schon. Viele denken, dass ich das nicht tun würde, ich weiß. Ich vergleiche mich natürlich mit anderen und ich sehe, welche Jobs die haben und auch, wer alles superschnell einen Job nach dem Studium gefunden hat und da immer noch arbeitet und aufsteigt. Natürlich denke ich dann, warum das bei mir nicht so geklappt hat. Ich sehe da keinen Grund, keinen Unterschied zwischen mir und den anderen. Ich kann das nicht erklären, warum die einen Job haben. Sie hatten Glück. Okay. Aber mehr ist es eigentlich nicht. Ich meine, mehr kann es wirklich nicht sein.

Ich hatte nach meinem Abschluss sogar einen richtig guten Job. Okay, das kommt natürlich immer drauf an, was man unter richtig gutem Job versteht. Aber die Kohle stimmte und ich musste nicht weit fahren, ich konnte zu Fuß zur Arbeit, ich habe mein eigenes Projekt geleitet. Das war alles okay. Die Arbeitsmoral, ja gut, die war nicht okay. Das war wirklich schrecklich. Deswegen habe ich den Job auch gekündigt, weil die Stimmung mich immer wieder runtergezogen hat. Egal was ich gemacht habe, egal was ich aus meinem Projekt gemacht habe, das hat die Leute nicht interessiert. Nicht meine Arbeitskollegen, noch nicht einmal diese Jill, mit der ich mich eigentlich gut verstanden habe. Aber auch nicht meinen Chef hat das interessiert.

Und nein, ich schleppe das nicht die ganze Zeit mit mir rum und bin im Stillen depressiv. Nein, ich sage das einfach so, ohne Bewertung.

Ich weiß nicht, wie Rita die Sache sieht, ich habe mich nicht getraut, sie zu fragen. Mein Job-Thema war generell schnell erledigt im Gespräch. Was will man auch schon sagen? Ah, ok, haste noch nichts gefunden? Ja klar, ist auch gerade echt mies. Ist irgendwie auch so eine Zeit-Sache. Ich habe das Gefühl, gerade suchen einfach alle einen Job. Sagt Rita. Selbst der Thomas, kennst du den? Der ist Chemiker, hat sein eigenes Spezialgebiet, da würde ja jeder denken, die Leute lecken sich die Finger nach ihm. Der sucht auch. Sagt Rita.

Alles klar, soll das heißen, dass ich auf keinen Fall was finde. Wenn Thomas schon nichts findet als Chemiker, wie soll ich dann was finden mit diesem wertlosen Magisterabschluss? Demotivierend. Rita meint, sie hätte mir eine Mail mit einem Jobangebot geschickt, ob ich denn damit etwas habe anfangen können? Eine Mail? Hm. Nee, die habe ich nicht bekommen, sage ich.

Ich denke nach, ob ich sie vielleicht vergessen habe. Ob ich da einfach so drüber geflogen bin. Manchmal verfalle ich in solch einen Wahn, dann schaue ich alle Jobbörsen durch, schreibe mir sämtliche Jobs raus, ich verliere dann die Urteilskraft und schreibe mir auch Sachen raus, für die ich gar nicht geeignet bin oder die ich eigentlich nicht machen möchte. In solch einem Zustand wäre die Mail von Rita natürlich leicht untergegangen.

Ich glaube, ich darf mich jetzt einfach nur nicht ablenken lassen.

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